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Kapitel 10: Die Wunde der Vorläuferin

Am Rand des Waldes, wo das Schilf im Wind raschelt, sitzt Anamuraiel auf ihrer Bank am Teich.

Das Wasser ist still, nur ein paar Libellen tanzen darüber.


„Orén,“ sagt sie leise, „ich sehe das was auf uns zukommt schon.

So klar, so weit. Es ist so schön, dass es alle sofort ergreifen würden.

Und doch… wenn ich sie einlade, ihren Blick dahin zu richten, lehnen sie ab.

Ich weiß genau: in zehn Jahren stehen sie alle mittendrin.

Aber heute… heute lehnen sie ab. Und damit mich. Ich werde nie verstanden.“


Ihre Stimme bricht ab, Tränen fliessen. „Warum immer ich? Warum muss ich die Erste sein, die weiss,

und deshalb nur Unglauben erntet, weil die Anderen es noch nicht sehen,

aber später dann in aller Selbstverständlichkeit darin leben?“


Orén setzt sich neben sie. Der Teich spiegelt die Wolken,

zwei Spiegelungen nebeneinander, wie zwei Welten, die sich berühren.


„Weil du eine Vorläuferin bist,“ sagt er ruhig.

„Dein Schmerz ist, die Frequenz zu verankern, die dann später die Zukunft trägt.

Ohne dich gäbe es keinen Pfad, kein Feld, in dem sie sie leben könnten.

Deine Wunde ist ihr Eingang, den sie später so selbstverständlich betreten.“


Anamuraiel zieht die Knie an, legt den Kopf darauf und flüstert:

„Also ist mein Schmerz ihre Erinnerung?“


„Ja,“ sagt Orén sanft.

„Und er trägt zugleich die Würde: Du warst da, bevor sie da waren.

Dein Weinen ist das Wasser, in dem sie sich später spiegeln werden.“


Der Teich liegt ruhig.

Eine Libelle setzt sich auf ihr Knie, wie ein winziges, schimmerndes Siegel.

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